Von der Raupe und dem Schmetterling
Auszüge aus dem Buch „Zukunft entsteht aus Krise“ Geseko von Lüpke im Interview mit Nicanor Perlas
Nicanor Perlas, unsere Kulturen kennt Mythen und Metaphern für Krise, Krieg und Weltuntergang.
Gibt es auch starke Metaphern für den kreativen Wandel? Es gibt eine wunderbare Analogie für Veränderungsprozesse, wenn man einmal an die Welt der Schmetterlinge denkt. Und dabei handelt es sich um mehr, als nur eine bildliche Metapher. Die amerikanische Biologin und Autorin Norie Huddle hat dies wissenschaftlich beschrieben. Sie hat sich intensiv mit den biologischen Prozessen bei der Transformation der Raupe zum Schmetterling beschäftigt. Dieser Prozess ist höchst erstaunlich und kann uns als eine wunderbare Analogie für den Wandel dienen, der zur Zeit in der arabischen Welt, aber prinzipiell auch in der ganzen Welt stattfindet.
Was passiert denn biologisch, wenn sich die Raupe verpuppt und sich in einen Schmetterling verwandelt?
Wenn sich eine Raupe in ihren Kokon einspinnt, dann vollziehen sich parallel zwei Prozesse. Einerseits beginnen Enzyme damit die Zellstruktur des Wurms aufzulösen, andererseits entstehen parallel zu diesem Desintegrationsprozess neue Zellen, die sich von den Zellen des Wurms massiv unterscheiden. Man könnte sagen: Sie schwingen in einer anderen Frequenz als der Rest des Raupenkörpers. Die Wissenschaftler, die diesen Prozess untersuchen, nennen diese neue Zellen ‚imaginativ’ oder ‚Imago-Zellen’, weil sie bereits die Strukturen und Informationen des Schmetterlings enthalten, der sich in der Zukunft bilden soll. Diese Zellen repräsentieren also so etwas wie eine Zukunft, die schon in der Gegenwart enthalten ist und nach Entfaltung strebt. Und je mehr das alte biologische System krisenhafte Zerfallsstrukturen zeigt, desto wirksamer und zahlreicher werden die Imago-Zellen.
Wie aber reagiert das alte, noch bestehende biologische System des Wurms auf diese neuen Zellen? Sind die Imago-Zellen für den Wurm eine Art gefährliche Krankheit, die es zu bekämpfen gilt?
Ja, tatsächlich behandelt der Körper diese Zellen wie eine Art Antikörper und versucht alles, um sie zu vernichten. In der Sprache der Medizin würde man von der Aktivierung des Immunsystems des Organismus sprechen, der etwas Körperfremdes zu bekämpfen versucht. Dabei entstehen diese neuen Zellen aber aus dem alten Körper, nur gehen sie in ihrer Art über das alte System und seine Ordnung hinaus. Also unterliegt das Immunsystem einem Missverständnis, wenn es das Neue, was sich da andeutet, für einen Fremdkörper hält und es unterdrücken, töten und verschlingen will. Und tatsächlich gelingt es dem Immunsystem häufig, diese erste Generation von Imagozellen zu eliminieren. Das verändert aber nichts an den Zerfallsprozessen im verpuppten Wurm, die weitergehen.
Sind die neuen Zellen mit dem ersten Erfolg des Immunsystems ausgeschaltet? Nein! Diese neuen Imago-Zellen tauchen weiter auf und werden immer mehr. Schon bald kann das Immunsystem der Raupe diese Zellen nicht mehr schnell genug vernichten. So überleben immer mehr der Imago-Zellen diese Angriffe. Neuere Forschungen verweisen sogar darauf, dass Imagozellen der zweiten Generation, die angegriffen werden, ihrerseits die Immunzellen infizieren, selber Imagozellen hervorzubringen. Also geht es im Kern um einen Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen. Während also Teile des Alten buchstäblich sterben, wird nach und nach die Zukunft geboren.
Wie verhält sich dann die zunehmende Zahl der Imagozellen? Da hat Norie Huddle und ihr Team erstaunliches beobachtet: Die bis dahin ziemlich einsamen Imago-Zellen, die isoliert in einer feindlichen Umgebung lebten, beginnen sich in kleinen Gruppen zu verklumpen. Dabei schwingen sie auf einer ähnlichen Ebene und beginnen von Zelle zu Zelle, Informationen miteinander auszutauschen. Dann, nach einer Weile, passiert wieder etwas höchst erstaunliches: Diese Klumpen von Imago-Zellen beginnen Gruppen und regelrechte Netzwerke zu bilden! Sie formen lange Fäden von verklumpten Imagozellen, die in der gleichen Frequenz schwingen und nun in größerem Maßstab miteinander innerhalb der verpuppten Larve Informationen austauschen. Dann, an einem bestimmten Punkt, scheint dieser lange Faden von Imago-Zellen plötzlich zu begreifen, dass er etwas ist. Etwas anderes als die Raupe. Etwas Neues!
Was geschieht an diesem Punkt, an dem sich das Neue in seiner Kohärenz selbst zu organisieren beginnt? Mit der Erkenntnis einer eigenen Identität verwandeln die neue Zellstruktur den alten Raupenkörper von Innen. Diese Erkenntnis ist die eigentliche Geburt des Schmetterlings. Denn damit kann jetzt jede Schmetterlingszelle ihre eigene Aufgabe übernehmen. Für jede der neuen Zellen ist etwas zu tun, alle sind wichtig. Und jede Zelle beginnt das zu tun, wo es sie am meisten hinzieht. Und alle anderen Zellen unterstützen sie darin, genau das zu tun. Das ist die perfekte Methode der Natur, einen Schmetterling zu erschaffen. Und ein wunderbares Beispiel dafür, wie eine Schmetterlingsbewegung aufzubauen ist …
Also sehen Sie die Metamorphose der Raupe in einen Schmetterling als eine Analogie für soziale Transformationen? Absolut! Menschen, die für neue Möglichkeiten wach werden, sind so etwas wie die Imago-Zellen der Gesellschaft. Der Prozess der sozialen Transformation beginnt mit dem Auftauchen von Individuen, welche die Samen der Zukunft in sich tragen. Sie sind ‚imaginativ’, indem sie in ihrem Sein und ihrer Identität einen Aspekt der zukünftigen Wirklichkeit in sich tragen. Diese innovativen Individuen sind so etwas wie Fackelträger einer sich entfaltenden Zukunft, werden in der eigenen Gesellschaft aber erstmal als ‚Abweichler’ wahrgenommen. Man sieht sie nicht gerade als Überbringer guter Nachrichten, sondern greift sie als Störenfriede gegenwärtiger Verhältnisse an. Diese Reaktion konnten wir in den ganze letzten Wochen in der arabischen Welt allabendlich in den Nachrichten beobachten.
Dann würden die Militärs und Sicherheitsapparate also die Funktion des Immunsystems des alten gesellschaftlichen Systems einnehmen?
Ganz genau! Man fühlt sich von den neuen ‚Zellen’ – den innovativen Initiativen und Individuen – bedroht, weil sie die alten Gewohnheiten der bisherigen Gesellschaft, die in der Analogie der verpuppten Raupe entspricht, offenbar zerstören wollen. Das bedrohte System aber will das scheinbar gute alte Leben, seine Regeln und Normen verteidigen und setzt sich zur Wehr. In extremen Fällen werden diese innovativen Individuen der ersten Generation auch getötet – man denke nur an John F. Kennedy, Martin Luther King, Mahatma Gandhi und so viele anderen, die alle ihr Leben lassen mussten, weil sie dem herrschenden System zu gefährlich erschienen. Im Ägypten der letzten Monate war es ein Internet-Aktivist namens Khaled Said, den Geheimpolizisten am Juni 2010 auf offener Straße zu Tode geprügelt hatten. Und die ersten Demonstranten auf dem Tahrirplatz folgten genau ein halbes Jahr später einem Aufruf unter dem Titel ‚Wir sind alle Khaled Said!’. Deutlicher kann die Analogie kaum sein: Das Immunsystem der alten Gesellschaft versuchte, die Visionäre einer anderen Zukunft loszuwerden. Trotzdem verhinderten diese gewalttätigen Reaktionen nicht, dass immer mehr neue ‚imaginierende’ Individuen in der Gesellschaft auftauchen. Im Gegenteil!
Muss denn die Reaktion auf das ‚Neue’ dann quasi zwangsläufig so gewalttätig ablaufen? Die bestehende Ordnung des Systems kann mit Mord und Totschlag reagieren, wie es dann in Libyien passiert ist. Es muss nicht immer soweit gehen. Manchmal besteht es darin, die Zeichen des Neuen zu ignorieren oder erste Regungen zu unterdrücken oder einfach so zu tun, als gäbe es keinen Widerstand. Das sind alles Methoden des Alten, sich von der Dynamik eines lebenden Systems, wie eine Gesellschaft es ist, abzuschotten. Und der Sterbeprozess passiert ja gleichzeitig auch im alten System. Nicht nur, dass die Initiativen der Veränderung in der arabischen Welt die Soldaten der alten Ordnung infizieren und auf ihre Seite zogen. Das alte System zerfällt ja auch, weil es sich überlebt hat. Der gesellschaftliche Rahmen und das Paradigma des Alten hat nicht mehr die Kraft, die Probleme, die es schuf, zu lösen. Und in so einem Moment bricht das neue durch. Die Individuen und Initiativen, die sich eine andere Zukunft vorstellen oder ‚imaginieren’, kommen zusammen und formen verschiedene Bewegungen zum Aufbau einer besseren Gesellschaft. Denken wir nur an die Umweltbewegung, die Bewegung für eine biologische Landwirtschaft, die Jugendbewegung, die Frauenbewegung, die Bewegung für die Rechte indigener Völker, die soziale Bewegung der Armen, die weltweite Demokratiebewegung, die neue Bildungsbewegung, die neue spirituelle Bewegung, u.s.w.
Aber gibt es nicht einen wesentlichen Unterschied? Denn während die Verwandlung des Schmetterlings zur Raupe sich natürlich und selbstorganisiert vollzieht, ist das ja bei gesellschaftlichen Umbrüchen anders …
Richtig. Die Entstehung einer neuen, gerechteren und nachhaltigeren Gesellschaft geschieht nicht automatisch oder wie bei Raupe und Schmetterling als ein natürlicher Prozess. Die materialistische Wissenschaft hat es bislang nicht geschafft, die planmäßige, kohärente und künstlerisch inspirierende Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling überzeugend zu erklären. Sie kann nicht begreifen, wie eine neue Ebene von Organisation und Emergenz aus einem Bündel genetischer Programme der Raupe entsteht, von denen einige in der Organisation des Schmetterlingskörpers gar nicht mehr gebraucht werden. In diesem Prozess ist offenbar eine höhere Form von Intelligenz, vielleicht so etwas wie ein formendes Feld im Organismus wirksam. In der Natur vollzieht sich dieser wunderbare Prozess der Transformation ganz naht- und fugenlos von alleine. In der menschlichen Welt ist das nicht so. Menschliche Intelligenz muss ihre Vorstellungskraft entwickeln, teilnehmen und den Wandel von einem Wurmstadium zu einem Schmetterlingsstadium der Gesellschaft aktiv wollen. Und dabei braucht es den Willen und die Entscheidung von Millionen von Menschen, die sich für einen Wandel einsetzen.
Willen und Entscheidung sind innere Prozesse. Braucht es diese individuelle Ebene der Umorientierung, um gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen? Dieser Prozess, aus der Opferrolle der Beherrschten oder dem Mitläufertum auszusteigen und ein kreatives Individuum zu werden, welches die Zukunft vorausnehmen will, ist ein ganz eigener und auch paradoxer Prozess. Imagozellen oder imaginierende Individuen entstehen durch einen Prozess der Individuation – das heißt, sie sind nicht mehr Teil des Systems, sie schwimmen nicht mehr im Strom, sondern sie haben ihre eigene unabhängige Beziehung zum System. Sie agieren nicht länger wie programmiert, sie können vielmehr selber neue Programme in das System einbringen. Also braucht es fraglos eine starke Individualität um imaginativ zu werden. Aber das starke Individuum reicht nicht aus, um die Gesellschaft zu wandeln. Was es zusätzlich braucht ist die kreative Erfahrung der Bezogenheit, der schöpferischen Verbindung, der synergetischen Beziehung zu anderen und zur Gesellschaft oder Welt als Ganzes. Wenn sich das Individuum nur um sich selbst dreht, passiert in der Gesellschaft ziemlich wenig. Dann ist die Identität isoliert von der Welt. Wenn der Einzelne aber die Erfahrung macht, dass seine Individualität erst im Kontakt zu anderen und zur Welt authentisch, stark und bezogen wird, dann passiert etwas Neues.
Sie haben mal gesagt, dass das Herz jeder Revolution die Revolution des Herzens sei. Ist es diese innere Umorientierung, die Sie meinen?
Ja, denn ich bin davon überzeugt, dass wir zunächst einmal eine Veränderung in unseren Herzen, in unserem Bewusstsein, in unserer Denkungsart und Identität brauchen, um eine Welt schaffen zu können, die sich wirklich radikal von der jetzigen bedrückenden Welt unterscheidet, die wir versuchen zu verändern. Das ist der Grund, warum das Herz jeder Revolution die Revolution des Herzens ist. Ohne die Veränderung der inneren Welt kann man die äußere nicht ändern. Die Schlüsselvoraussetzung für diese innere Reise ist die Einsicht, dass das Mitgefühl für die Welt durch das Elend in ihr geweckt wird. Widerstand dagegen ist wichtig, aber mit ihm allein kann man weder die Welt ändern, noch eine neue Welt schaffen, sondern lediglich das Schlechte aufhalten. Aber man muss auch Alternativen kreieren. Der Schmetterling schafft das von alleine, wir müssen dran arbeiten.
Dann scheint der kritische Punkt ja die Verbindung der Individuen und Initiativen zu sein, die schon eine andere Welt in sich tragen …
Tatsächlich müssen die verschiedenen Bewegungen, die in sich als Samen die verschiedenen Möglichkeiten einer Zukunft tragen, lernen so zusammen zu kommen, dass sie sich in ihren jeweiligen Identitäten und Fähigkeiten gegenseitig unterstützen und stärken. Gesellschaftliche Transformation wird erst dann wirklich möglich, wenn diese ganz verschiedenen Identitäten es lernen, mit- und untereinander eine Synergie zu schaffen. Denn diese Synergien sind so etwas wie der Umriss einer zukünftigen Gesellschaft, die sich verwirklichen will. Das steht uns bevor. Wir müssen also – wie die Imagozellen im Wurm –Wege finden, um untereinander Brücken zu bauen, damit das Neue sich ausbreitet. Und die Welt ist voll von kreativen Menschen und Initiativen, welche die Zukunft neu denken. Aber damit das klappt, müssen wir – glaube ich – den Prozess der Transformation wirklich begreifen. Und daran mangelt es der Zivilgesellschaft oft noch. Viele der kreativen Menschen und Individuen haben nicht das kreative Netzwerk im Vordergrund, sondern die Durchsetzung ihrer isolierten Lösungen, Vorstellungen und Ziele.
Welche Zukunft sehen Sie für die Zivilgesellschaft, die manche ja schon als ‚neue Weltmacht’ bezeichnen? Die Zivilgesellschaft ist eben vor allem eine unschlagbare kulturelle Kraft. Denn sie ist die kreative Trägerin der vielfältigen Visionen und Werte einer anderen Welt. Das ist ihre Essenz. Aber es geht für jeden einzelnen Aktivisten dieser Welt darum, über den täglichen Egoismus und seine Beschränkungen hinauszugehen, um Teil einer größeren Dynamik zu werden. Die Zivilgesellschaft ist eine kulturelle Quelle von Ideen und neuer Identität, nicht von politischem Kampf um Macht und Einfluss. Das war auch in der ägyptischen Revolution immer wieder wahrzunehmen, als die Menschen trotz aller Unterschiede sich einem gemeinsamen Prozess hingaben. Das war mitten in der Krise der Moment, wo Alternativen sichtbar wurden, ein neues Ägypten durchschien und – um bei der Metapher zu bleiben – die Imagozellen erkannten, dass sie etwas anderes sind, etwas Neues, was nicht aufzuhalten ist.
Wie lässt sich das dort aufscheinende Neue fördern und organisieren? Einer der vielversprechendsten Wege, um die Möglichkeiten von zunehmender Krise und Chaos zu nutzen, liegt darin, jene ‚imaginierenden’ Individuen oder Pioniere zu identifizieren, welche die verschiedenen Aspekte einer anderen Zukunft in sich tragen. Oft sind das genau jene Menschen, die unter den schwierigsten Bedingungen in der Lage waren, hervorragenden und inspirierende Modelle zu erschaffen. Und dann müssen wir unsere Wahrnehmung so schulen, dass wir die versteckten Verbindungen und unsichtbaren Muster, die all diese unterschiedlichen Initiativen verbinden, erkennen und zugleich jedem ‚imaginierenden’ Individuum helfen dieses lebendige Ganze zu sehen.
Und welche Rolle spielt der oder die Einzelne in diesem Wandlungsprozess? Eine der wirkungsvollsten Wege ist die Methode, die Zukunft heute schon vorwegzunehmen und Prototypen der möglichen Zukunft zu erschaffen. Wir kreieren die Zukunft, indem wir sie vorwegnehmen und heute schon leben. Selbst wenn das nicht vollständig den Normen des alten Systems entspricht. Das macht auch die Imagozelle nicht anders. Denken Sie nur an die Bewegung atomwaffenfreier Zonen. Das kann symbolisch im eigenen Wohnzimmer beginnen, dann die Schule oder Universität erfassen, den Ort, die Stadt, die Region und das Land. Als sich das Parlament von Neuseeland entschied, den Staat zur ‚atomwaffenfreien Zone’ zu erklären, hatten bereits 70% der Städte diesen kreativen kulturellen Impuls aufgegriffen. Der Beschluss war nur noch Formalität, weil die Zukunft schon da war.
Was also ist der Kern der Metapher von den Imago-Zellen? Dass die imaginativen Menschen die Zukunft in der Gegenwart erschaffen können! Dass wir nicht auf die Zukunft warten müssen, sondern jetzt und hier erschaffen können. Wenn die Menschen das begreifen – dass sie die Zukunft in sich haben und dann kreativ in die Welt bringen können – dann wird ihnen deutlich, dass sie die Wirklichkeit verändern können. Denn eines Tages wird diese Wirklichkeit dann die neue Realität.